17.02.2019

Als ich am Sonntag zu YouthBridge ging (ich war ein bisschen spät dran), hatte ich nur ein gewöhnliches Seminar erwartet, doch sobald ich die Tür aufmachte, überrollten mich die Eindrücke: alle YouBies auf vier Tischen verteilt, alle Teil einer entfachten Diskussion in ihrer Gruppe. Jeder besaß einen Luftballon und trug eine Sicherheitsweste mit reflektierenden Streifen und einen kurzen, aus Nummern und Buchstaben zusammengewürfelten Code als Namensschild. Nur zwei Männer in weißen Arztkitteln standen und verkündeten fordernd, in welche Richtung die Diskussionen sich bewegen müssten. Nun wurde auch meine Anwesenheit bemerkt. Ohne viel Erklärung bekam ich meine eigene Weste, einen Luftballon und meinen persönlichen Code und wurde einer Gruppe zugeteilt. In der Gruppe verstand ich sofort, wieso die Diskussion so rapide verlief: Wir besprachen zahlreiche Dilemmata und mussten uns schnell für eine Lösung entscheiden, diese wurde vom Gruppenchef nach einer Abstimmung verkündet. Jedoch konnte man kaum einen klaren Gedanken fassen, da die Männer in den Arztkitteln die Dilemmata so schnell wechselten oder veränderten und nebenbei willkürlich Punkte an die Gruppen verteilten. Meine Sitznachbarn erklärten mir, dass es 500 € zu gewinnen gibt. Bei jedem zusätzlichen Dilemma wurde der Effekt unserer Entscheidung immer größer: Es ging zunehmend um Menschenleben. Nun war die erste Runde vorbei und das nächste Spiel begann: Jede Gruppe sollte bei einem Gedankenexperiment, das uns zum mittelalterlichen Dorf mit verschiedenen Rollen machte, einen Schuldigen bestimmen und opfern. Hier hat meine Gruppe schnell eine Verschwörung durchschaut und den Schmied, der einen Händler aus einer anderen Stadt überfallen und getötet hat, als Schuldigen bestimmt. Das nächste Spiel: Schiffe versenken, aber mit Menschen! Als Gruppe beschlossen wir, auf welches Feld wir schießen, und wenn ein YouBie auf diesem Feld stand, war er aus dem Spiel. Meine Gruppe war der Angreifer und wir haben in der letzten Runde mit viel Glück den verblieben YouBie getroffen. Nun hieß es, wir seien Geiseln der Gruppe, die wir gerade angegriffen hatten. Wir mussten wieder einen von uns opfern – diesmal ohne Rollen. Ein Gruppenmitglied meldete sich freiwillig und als Zeichen für seinen Tod platzte sein Luftballon. Wir versammelten uns wieder an den Tischen, die Sieger wurden verkündet. Die Seminarleiter zählten der Reihe nach die Punkte und, tatsächlich, meine Gruppe hatte die meisten! Ich erinnerte mich an die 500 € Preisgeld. Die Männer holten eine kleine silberne Box hervor und machten sie auf: fünf 100 € Scheine lagen auf einer kleinen blauen, samtigen Fläche. Sie nahmen sie heraus… und steckten sie in die eigene Tasche. Was??
Das Spiel war vorbei.
Die Männer klärten uns auf. Das gesamte Spiel war ein Radikalisierungsprozess, das sie als Spiel getarnt hatten. Sie erzählten, dass jede kleine Besonderheit des Spiels für die Strategie einer diktatorischen Gruppierung steht: Die Weste stand für die Uniformierung, der Zeitdruck für den ständigen Druck im Alltag einer diktatorischen Gruppierung, die willkürliche Punktevergabe für die Willkür. Und die wichtigste Metapher: Niemand gewinnt die 500 €, denn in einer Diktatur gewinnt am Ende niemand. Die Manipulation verläuft trichterförmig: Es fängt harmlos an (Diskussionen) und spitzt sich unbewusst immer weiter zu (Opferung von eigenen Teammitgliedern). Das Spiel war wie eine „Impfung“ (O-Ton Seminarleiter) für uns, wir seien jetzt sensibler für Manipulationen. Und wie bei einer echten Impfung hoffen wir alle, dass die neue Immunität nur eine Vorsichtsmaßnahme ist und wir im Spiel des Lebens nicht von diktatorischen Krankheiten befallen werden!

Arseniy Pavlenko