Ich hatte sehr viel Glück. Ich konnte an einer Reise teilnehmen, die mein Leben verändert hat! Ich habe wundervolle Leute kennengelernt, die zu neuen Freunden wurden, und mein Wissen über die europäische Geschichte erweitert. Doch das Wichtigste: Ich habe Antworten auf für mich essentielle Fragen gefunden: Wer bin ich? Wer waren meine Vorfahren? Wie und wo haben sie gelebt? Was ist mit ihnen in den letzten 500 Jahren passiert?

Über die kollektive Erinnerung

Also, wir hatten: acht Teilnehmer aus den USA, neun aus Deutschland, zwei aus der Ukraine und zehn aus Israel. Dazu: drei wundervolle Betreuer, Madrichim. Und: drei Leiter, einen für die amerikanische, einen für die israelische und einen für die deutsche Gruppe. In dieser Zusammensetzung sind wir zehn Tage quer durch Europa gereist!

Unsere Route: München-Prag-Mauthausen-Wien-Venedig-München!!!

An unserem ersten Abend sagte der Direktor der Europäischen Janusz Korczak Akademie Stanislav Skibinski: „Während dieser Reise werdet Ihr eine Vielzahl von Städten, Orten, Gebäuden und Denkmälern sehen. Einige von ihnen sind Gedenken an großartige Momente in der Geschichte unseres Volkes, andere sind Zeugen unserer Tragödien. Das ist bestimmt interessant, aber nicht das Ziel unserer Reise. Jeden Tag werdet Ihr wundervolle Leute treffen und ihre interessanten Schicksale und Geschichten kennenlernen, doch das ist ebenfalls nicht unser Ziel.

Was ist aber dann das Ziel von so einer Reise, was soll unsere Reise ausmachen? Unsere Reise wird genau das ausmachen, was wir mit eigenen Händen erschaffen, mit unseren Eindrücken und Emotionen, die wir im Laufe dieser Reise sammeln werden. Das alles hautnah zu erleben, es zu fühlen, auf sich einwirken zu lassen, um sich der kollektiven Erinnerung unseres Volkes anzuschließen: Das ist das Wichtigste und darum machen wir diese Expedition.“

Über die Expedition 

Unsere Tour durch Europa war natürlich keine gewöhnliche touristische Reise. Es war eine echte EXPEDITION. Und was sind die wichtigsten Eigenschaften einer Expedition?

  1. Unser persönliches Ziel: Wir müssen etwas finden, etwas erreichen, uns offenbaren. In unserem Fall ganz klar: Wir machen die Reise, um das Leben des europäischen Judentums kennenzulernen, mehr über seine Traditionen, die Holocaust-Tragödie, die Momente der Größe unseres Volkes, seine Küche und Kunst und noch viel mehr zu erfahren.
  2. Mittel und Instrumente: unsere Handys, Fotokameras und das Internet.
  3. Funde und Erfüllungen: Im Laufe jeder Expedition tauchen Ergebnisse und Erfolge auf. Wir entdecken jeden Tag etwas Neues, lernen interessante Menschen kennen und finden neue Freunde.
  4. Aufsicht durch Begleiter: wundervolle Guides in jeder Stadt und unsere sehr belastbaren Madrichim.
  5. Trophäen und der „Hauptgewinn“ (wie in etwa der heilige Gral): In unserem Falle wird der „heilige Gral“ zum „virtuellen Museum“, in dem wir die auf der Reise gesammelten „Exponate“ aufbewahren.

Olga Kotlytska, „Direktorin“ unseren „virtuellen Museums“, hat unsere Aufgabe so formuliert: „Was kann zu einem Exponat in einem Museum werden? Zum Beispiel ein auf einem Foto festgehaltener Moment, der Euch nachdenken lässt und Euch tief in der Seele berührt. Aber auch ein Stein aus dem Ort, über den Ihr Euren Liebsten erzählen wollt. Ebenso ein Souvenir, das Ihr für Eure Freunde oder Eltern gekauft habt. Auch ein Zitat von einem der Guides, das Euch einfach nicht aus dem Kopf gehen will… Haltet Eure Augen, Ohren, aber auch Eure Herzen offen. Unser Museum füllt sich dann mit einzigartigen, unbezahlbaren Exponaten!“

Über die Exponate 

Und was waren nun unsere Exponate? Das Buch einer Holocaust- und Getto-Überlebenden, einer weisen und mutigen Frau, Dagmar Lyublova, aus Prag. Ein Golem, der von einem Prager Rabbiner erschaffen wurde, um die Bevölkerung des Gettos während eines Pogroms zu schützen. Ein Stein aus dem Steinbruch im Konzentrationslager Mauthausen, dazu ein Bild von diesem Ort der Trauer und Qual, das meine Freundin Hanni aus Berlin gemalt hat. In Wien: ein Kinoticket zum Nachkriegsfilm „Der dritte Mensch“, in dem man sieht, wie zerstört eine der schönsten Städte Europas nach dem zweiten Weltkrieg war. Ebenfalls in Wien: ein gemeinsames Foto mit dem Gelehrten Avi Blumenfeld, der „laufenden Enzyklopädie“, bei unserer gemeinsamen Zeremonie der Havdala auf dem jüdischen Platz im Zentrum Wiens, einem sehr symbolträchtigen Ort.

Und natürlich: eine unglaublich große Menge von Fotos aus Venedig, der letzten Station unser Reise.

Über das Getto in Venedig

Venedig. Das letzte und allerwichtigstes Ziel unserer Route. Für die europäischen Juden begann in Venedig: das isolierte Überleben. In Venedig wurden wir mit dem Begriff Getto vertraut, ein Begriff, den man heute unumstritten mit etwas Negativem verbindet. Welche Gedanken löst das Wort bei Euch aus? Hunger, Leid, Demütigung, Tod. Doch man muss sagen, dass niemand geahnt hätte, dass sich das so entwickeln würde, als das Getto in Venedig entstand. Das Leben in einem abgesperrtem und gesichertem Bereich erschien für Verfolgte aus vielen Teilen Europas wie ein wahrer Segen.

Zitat aus dem „Edikt der Republik von Venedig“ vom 29. März 1516: „Die Juden sollen zusammen in Corte-de-Case leben, das sich neben dem Getto San-Girolamo befindet. Um ihr nächtliches Herumlungern zu verhindern, sollen zwei Tore gebaut werden, an der Seite des alten Gettos, wo sich die Brücke befindet, und genauso auf der anderen Seite der Brücke. Diese Tore sollen jeden Morgen beim Klang der Marangonen geöffnet werden und um Mitternacht von vier christlichen, von den Juden ernannten und bezahlten Wächtern geschlossen werden.“

1516 wurde den Juden ein spezielles Viertel zugeteilt, das Getto Nuovo („die neue Gießerei“), das sich neben dem Gießerei-Betrieb in Venedig befand (von diesem Ort stammt auch der Begriff Getto ab). Hier wurden vor allem Juden italienischer und germanischer Herkunft angesiedelt. 1541 wurden die Juden aus Levante in das benachbarte Gebiet „Getto Vecchio“ („die alte Gießerei“) umgesiedelt. 1663 gründete man das „Getto Nuovissimo“ („das neueste Getto“), dessen Bevölkerung zum größten Teil Juden aus Westeuropa bildeten.

Im Getto drohten den Juden keine Pogrome oder Inquisitionen. Von einem eigenen Getto konnten viele andere ethische Gruppen, die zu der Zeit in Venedig lebten, nur träumen. Der Grund? Sie hatten nicht so viel Geld wie die Juden, die sich auch mit Finanzen beschäftigten und ein riesiges Handelsnetz in ganz Europa erschufen.

Kredite, Darlehen, Investitionen: Dieser Arbeit gingen die Bewohner des venezianischen Gettos nach. Sie zahlten regelmäßig ihre Steuern. Bei solchen Bedingungen konnte man doch nur froh sein, dass die Juden da waren, oder?

Nicht zu Unrecht verglich unser Guide das damalige Venedig mit dem heutigen New York. Venedig war damals das politische und wirtschaftliche Zentrum Europas, die berühmte Rialto-Brücke kann als die mittelalterliche Wall-Street bezeichnet werden und die Juden mit den gelben Patches und Kippas waren die „Wolves of Wall-Street“. Sogar die ersten „Wolkenkratzer“ gab es zunächst hier! Jedoch natürlich nicht wegen des Geld-Überschusses, sondern wegen Platzmangel: Die bescheidene Fläche des Gettos konnte der stets wachsenden Bevölkerung nicht gerecht werden. Stellt Euch einmal vor: eine fünf- bis achtköpfige Familie. Oft lebten drei Generationen in einem Zimmer von fünf Quadratmetern!!!

Es lief im Großen und Ganzen wie immer in der Geschichte des jüdischen Volkes: Größe und Erniedrigung, Wohlstand und Armut, große Möglichkeiten und strenge Einschränkungen.

In Venedig gibt es regelmäßig Ausstellungen, die dem Getto gewidmet sind. Venedig ist doch so nah, fahrt hin und schaut Euch die Ausstellungen an.

Sofija und Arseniy Pavlenko